Ich kann es kaum fassen, dass ich nun 70 Jahre alt bin! Mein Vater ist mit 69 gestorben und als meine Mutter ihren 70. Geburtstag feierte, war sie zwar quicklebendig, aber ganz anders als ich heute. Allein ihre Garderobe war sehr konservativ, nie hat sie Jeans getragen oder Hoodies. Sie hat auch nicht Yoga gemacht, war nicht joggen, sie hat eigentlich überhaupt keine Bewegung gemacht 😄. Sie war nicht digital mit der Welt vernetzt, sie hatte einfach regen Austausch mit der Nachbarschaft. Wie anders ist das heute für mich: Ein Leben, das viel schneller, vernetzter und aktiver geworden ist!
Was bedeutet es also, 70 zu sein? Für mich ist es ein Gefühl der Zufriedenheit, der inneren Ruhe und Sicherheit. Ich bin weniger hektisch als früher und nehme die Dinge anders wahr, reflektiere mehr, mache überwiegend das, was mir Freude macht, bin gerne für andere da, möchte etwas bewegen, was mir am Herzen liegt und blicke mit viel Dankbarkeit auf viele persönlicher Erlebnisse und Geschichten zurück!
Takeaways
In meinem Rückblick auf 70 Jahre gibt es unterm Strich viele positive persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Das macht mich hoffnungsvoll auch für die Zukunft.
Ich wuchs in einer Zeit auf, in der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung einen hohen Stellenwert hatten.
Wir Babyboomer sind in einer analogen Welt groß geworden und haben die digitale Entwicklung von Anfang an miterlebt. Diese Erfahrung sollten wir nützen.
In diesem kurzen Rückblick möchte ich euch erzählen, was ich an diesen – meinen - 70 Jahren so besonders finde.
EIGENSTÄNDIGKEIT UND FREIHEIT
Mein Heimatort in Oberösterreich hatte etwa 4.000 Einwohner und jeder kannte jeden. Man konnte einfach ohne Anmeldung bei jemandem zu Hause vorbeischauen, denn die Türen waren immer offen und die Leute hatten Zeit füreinander.
Es gab noch kein Fernsehen, nur Radio, aber dafür viele Vereine fürs Gemeinschaftsleben. Wir hatten keinen Kühlschrank und so wurden z.B. die Eier in Wasserglas eingelegt, um sie haltbar zu machen und das Gemüse wurde im Keller gelagert; die Milch holten wir sowieso täglich vom Bauern. Lange hatten wir auch keine Waschmaschine, ein Umstand, den ich mir heute unmöglich vorstellen kann. Die Heizung wurde zuerst mit Koks, später mit Öl beheizt und als schließlich die Gasleitung kam waren alle begeistert von dieser sauberen Energie!
Wir waren echte „Straßenkinder“! Es gab ja kaum Autos und so war die Schotterstraße vor unserem Haus unser Spielplatz. Wir sind in der ganzen Siedlung umhergezogen, keiner hat genau gewusst, wo wir sind und die Eltern meinten „Sie werden schon heimkommen, wenn sie Hunger haben 😁“ Wie anders ist die Welt, in der Kinder heute aufwachsen und in der sie überall und ständig erreichbar sind. Unser Kinderalltag war von einer erstaunlichen Eigenständigkeit geprägt, denn niemand hat uns gesagt, was wir in der Freizeit machen sollen, wir haben uns einfach etwas ausgedacht.
In der Volksschule war ich mit 37 anderen Kindern in einer Klasse, mit einem Lehrer! Ich war eines der wenigen Kinder das danach ins Gymnasium ging. Mein täglicher Schulweg, zuerst zu Fuß und dann mit dem Personenzug, dauerte weit über eine Stunde. Außerdem war die Schule zu klein für die vielen Kinder (Boomer-Zeit!) und wurde doppelt belegt: eine Woche hatten wir am Vormittag Unterricht, in der nächsten Woche am Nachmittag. So bin ich bereits mit 10 Jahren eine Woche um 6 Uhr von zu Hause weggegangen und nach 14:00 nach Hause gekommen und in der folgenden Woche war es 11 bis nach 19 Uhr und ich war über weite Strecken alleine unterwegs. Damals war das normal. Ich bewundere heute mehr denn je das Vertrauen meiner Eltern in mich und aller Eltern in ihre Kinder! Wir waren eigenständig, denn es war ja auch gar nicht anders möglich! In meiner damaligen Welt konnte ich niemanden mal so schnell anrufen, wir waren vollkommen darauf angewiesen, uns mit festen Zeitpunkten und Absprachen zu verabreden und mussten uns daran halten. Beeindruckend finde ich, wie wortgewandt und selbstsicher Kinder heute sind, mir ist noch der Satz meiner Großmutter in den Ohren „Wenn Erwachsene sprechen, müssen Kinder still sein“. Beachtlich, was aus uns trotzdem geworden ist 😊.
Und dann England! Der damalige Sehnsuchtsort vieler Schüler! Ich durfte bereits mit 12 Jahren meine ersten Ferien bei einer Familie in Birmingham verbringen. Nach nur zwei Klassen Englisch in der Schule, konnte ich gerade einmal genug, um das Wichtigste auszudrücken. Trotzdem bin ich alleine (!) von Salzburg nach London-Heathrow und weiter nach Birmingham geflogen. Meine Gastfamilie konnte nicht Deutsch und ich war gefordert, sehr schnell zu lernen. Ich war unglaublich gerne dort und meine häufigsten Worte waren georgeous und amazing. Anfangs waren meine Eltern besorgt, weil sie nur eine einzige Postkarte bekamen, aber dann meinten sie, „Keine Nachricht ist eine gute Nachricht, sie hat zumindest kein Heimweh.“ Das hatte ich definitiv nicht! Es war das England der Beatles, des Minirocks, schriller Farben und es gab Fruchtjoghurt und Cereals, all das gab es zu Hause nicht. Diesem Aufenthalt folgten noch weitere und ich habe daraus für mein Leben ein Gefühl von Freiheit und Offenheit für Fremdes mitgenommen.
FUN FACTS UND LANGEWEILE
Mit 11 Jahren habe ich meine erste Hose bekommen! Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar, dass Mädchen keine Hosen tragen durften! Es war eine schwarze Glockenhose und ein Quantensprung in meiner Garderobe! Im normalen Alltag haben wir Mädeln nur Röcke getragen, im Sommer mit Stutzen im Winter mit Wollstrumpfhosen, also die, die unter den Knien immer Falten gemacht und manchmal auch gejuckt haben. Wenn wir fein ausgegangen sind, gab es Nylonstrümpfe mit Strumpfhalter. Ach, war das schrecklich! Wie wunderbar und unkompliziert ist die Mode heute dagegen.
Während des Lockdowns wurde immer wieder hervorgehoben, wie sehr gerade Teenager darunter leiden, dass sie ihre Freunde nicht treffen können, allein zu Hause sitzen müssen und keine Erfahrungen machen können. Für mich war das wie ein deja vue. So ähnlich (natürlich ohne die gesundheitliche Angst im Nacken) fühlte es sich damals für uns „Fahrschüler“ an, unsere Freunde waren ja nicht an unserem Wohnort. Zusätzlich hatten wir auch keine Möglichkeit mit unseren Freunden zu chatten, telefonieren oder online zu spielen. Da war viel Kreativität gefragt, um etwas mit der Freizeit anzufangen. Ich habe gebastelt, genäht, Handarbeiten gemacht, Briefe geschrieben, gelesen und auch zu Hause geholfen. Und ja, über lange Strecken war es trotzdem langweilig. Damals habe ich es gehasst, aber aus heutiger Sicht bewerte ich das anders und sehe genau darin kreatives Potenzial. In Zeiten von Smartphone ist uns Langeweile abhandengekommen und ich denke es wäre gut, sie zumindest zeitweise wieder zu entdecken.
Zugegeben, sie war von meiner Oma und es gab modernere, aber sie war eben die Einzige, die wir zu Hause hatten. In den Sommerferien habe ich mir das Schreiben mit 10 Fingern selbst beigebracht. Jeder Anschlag war dabei ein Kraftakt! Wenn ich heute den Söhnen meines Neffen zusehe, mit welcher wahnsinnigen Geschwindigkeit ihre Finger über die „Tasten“ fliegen, sehe ich wieder, wie viel Zeit zwischen uns liegt.
ENTWICKLUNGEN, DIE UNS VERÄNDERT HABEN
Die Entwicklung der Kommunikationstechnologie habe ich hautnah mitbekommen, denn meine Schwester ist 1971 nach Japan übersiedelt. Japan war unendlich weit weg und Kommunikation ein Luxus. Es gab im Grunde nur Briefe und die haben Wochen gebraucht. Allerdings existieren heute hunderte Briefe, die vor allem meine Schwester und Mutter austauschten - das ist gesammelte Familiengeschichte. Das hat aufhört, als E-Mail aufkam und die Nachrichten kürzer und kürzer wurden. Telefonieren war nur über den Operator (man sagte auch „die Vermittlung“) möglich, denn jedes Ferngespräch musste angemeldet werden. Man wusste nie, wann die Verbindung kam und nicht selten warteten wir stundenlang (!) auf das Gespräch. Dann saß mein Vater mit der Stoppuhr daneben, weil es fast unbezahlbar war. Eine Minute Telefonat hatte damals den Gegenwert von ca. 14 Kilogramm Brot gekostet oder auf heutige Währung umgerechnet ca. 41 Euro pro Minute![i] Später kamen Fax, dann E-Mail und heute nützen wir begeistert und dankbar Videochats, die nichts kosten. Diese technologischen Errungenschaften machen es möglich, selbst über diese weite Distanz eng verbunden zu bleiben.
In der Schule und auch noch auf der Uni lernten wir mit Rechenschieber und Logarithmenbüchern zu rechnen. Das kann ich heute natürlich nicht mehr, aber geblieben ist, dass man vorab überschlagmäßig das Ergebnis abschätzen musste. Dieses innere Korrektiv, sich nicht auf das zu verlassen, was der Rechner oder Computer ausspuckt, halte ich besonders in Zeiten von AI für besonders wichtig.
Auf meiner Universität gab es nur eine Lehrveranstaltung für EDV, es gab einen Großrechner für die ganze Uni und unsere Aufgaben mussten wir auf Lochkarten stanzen. Mit Schachteln voller Lochkarten sind wir dann in den Rechnerraum gegangen und haben dort auf einen Slot gewartet, damit diese Karten eingelesen und berechnet wurden. Ein Fehler auf nur einer Karte genügte und nichts ist mehr gegangen! Die große Errungenschaft waren die so genannten technischen Taschenrechner, die mehr konnten als addieren und subtrahieren, aber immens teuer waren. Als Studenten hätten wir uns niemals vorstellen können, dass kaum 20 Jahre später leistungsstarke „Minicomputer für die Hosentasche“ ihren Siegeszug antraten.
Meinen ersten Computer kaufte ich 1986 für meine Dissertation, weil das Universitätsinstitut keinen Computer hatte! Es war ein Commodore 64 mit 84 KB Arbeitsspeicher – jedes Foto oder jede Mail auf meinem Smartphone hat mehr Datenvolumen! Einen weiterer Meilenstein erlebten wir 1999. Ich werde nie vergessen wie wir um 11 Uhr nachts mit unserem neu installierten Internet den ersten Urlaub von zu Hause aus buchten! Ab dann war für uns alles anders! Die Entwicklung war (und ist) rasant und es ist genial, was uns heute alles zur Verfügung steht. Es ist aber auch anstrengend mit der Entwicklung mitzuhalten und manche Änderungen oder Trends zu akzeptieren bzw. mitzumachen. Mich persönlich bringt es auf die Palme, dass es in vielen Fällen keine Ansprechpartner mehr gibt, sondern man muss mit einem „Bot“ zufrieden sein, der, je nach Programmierung ziemlich schnell ratlos ist. Ohne meinen Sohn, der mich immer wieder zu neuem digitalen Verhalten anregt und meine Anlaufstelle für Troubleshooting ist, würde ich mich viel schwerer tun.
DIE WELT DER FOTOS – EIN VÖLLIG ANDERER BLICKWINKEL
Für meinen 70. Geburtstag habe ich nach Fotos gesucht. Obwohl mein Vater gerne fotografierte, gibt es nur eine Handvoll persönlicher Aufnahmen aus meiner Kinderzeit. Auch aus meiner Schulzeit und selbst aus dem Studium gibt es wenige Fotos von Personen und Alltagssituationen, also das, was mich heute interessieren würde. Fotografieren war teuer, man überlegte sich gut, was man festhielt und das waren meist Reiseerinnerungen, z.B. Landschaften und Schlösser, Heute hingegen nehmen wir massenhaft Personenfotos auf, machen Selfies in allen möglichen und unmöglichen Situationen - Landschaften und Sehenswürdigkeiten sind ja jederzeit im Internet abrufbar. Ich wäre neugierig, wie jemand in 70 Jahren aus dieser ganzen Flut von Fotos seine Lieblingsaufnahmen aussucht.
VON DER SCHOTTERSTRASSE ZUM SMARTPHONE - 70 JAHRE VOLL VERÄNDERUNGEN MACHEN LUST AUF ZUKUNFT
Es gäbe noch so vieles zu beleuchten! Fakt ist jedenfalls, dass mich all diese Erlebnisse und Errungenschaften geprägt haben, sie sind unauslöschlicher Teil meiner ganz persönlichen Entwicklung. Als typischer Babyboomer bin ich in diese enorm spannende Zeit des Wertewandels hineingewachsen und haben die digitale Revolution miterlebt – ich kenne beide Seiten, analog und digital. Und ich glaube, diese Fähigkeit, die alte und neue Welt zu verbinden, gibt uns Babyboomern besondere Fähigkeiten. Wären wir damit nicht gute Impulsgeber für die Diskussionen um den Umgang mit AI?
Es ist schwer sich vorzustellen, wo die Entwicklung hingeht, aber durch den Blick zurück erkennt man, dass immer neue Möglichkeiten entstanden sind. Ich finde, sich das vor Augen zu führen ist wichtig, gerade heute, wo es so viele Zukunftsängste gibt. Ich will keine rosarote Brille aufsetzen oder blauäugig behaupten, dass Entwicklung nur schön ist. Nie geht etwas linear weiter, da gibt es Tiefen und manchmal sogar schlimme Abstürze, aber in Summe geht es immer bergauf! Niemand hat das besser untermauert als der schwedische Arzt Hans Rosling und ich kann euch nur empfehlen einen seiner TED Talks[ii] anzuhören oder sein Buch FACTFULNESS[iii] zu lesen. Sein Credo: Die Welt ist besser als wir glauben!
Ich wäre so neugierig, wie mein Sohn zu seinem 70. Geburtstag auf seine Lebensreise zurückblicken wird. Ein Teil davon ist auch meine Zeit, aber vieles, was er dann erzählen wird, kann ich mir nicht ansatzweise vorstellen. Die Geschwindigkeit des Wandels bleibt für mich immer wieder erstaunlich. Aber nicht einmal Bill Gates konnte sich die Entwicklung vorstellen, als er 1981 sagte: „Niemand wird jemals mehr als 640 KB Arbeitsspeicher in seinem PC benötigen!“
Und jetzt will ich meinen besonderen Geburtstag einfach nur feiern – ganz im Sinne von Let´s Celebrate.
Herzlichst
Helga
[i] Inflationsrechner: www.finanzrechner.at
[ii] Hans Rosling: TED Talk – How not to be ignorant about the world. (2014)
https://www.ted.com/talks/hans_and_ola_rosling_how_not_to_be_ignorant_about_the_world?subtitle=en
[iii] Hans Rosling: FACTFULNESS Wie wir lernen die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. (2019)