Memoiren

„Jeder sollte seine Memoiren schreiben“ - live Interview auf HR2

Memoiren schreiben gibt es seit der Antike! Da waren es Kriegshelden, wie Julius Caesar, der über seine Schlachten berichtete, doch heute, im Zeitalter des Sich-Vermarktens, sind sie bei Politikern, Sportlern und Showstars besonders hoch im Kurs. Gerade hat Ex-Kanzlerin Angela Merkel mit ihrem 700 Seiten Buch FREIHEIT für großes Medienecho gesorgt. Aus diesem Anlass hat der Hessische Rundfunkt HR2 im Rahmen der Sendereihe ZUM TAG das Memoirenschreiben von verschiedenen Seiten beleuchtet. Der Titel der Sendung war Zur Erinnerung: die eigene Geschichte schreiben.

In diesem Podcast sprechen ein Politikwissenschaftler und ein Historiker über die Qualität von Merkels Memoiren, es gibt auch Zitate von Ireen Sheer über den ersten Teil ihrer Memoiren, die meinte, es war mehr Arbeit als gedacht. Ein Ghostwriter berichtet, wie er die Memoiren von Sportlern schreibt und dabei fremde Leben erleben darf. Und schließlich hat man mich eingeladen, um mit mir darüber zu diskutieren warum es eigentlich für jeden Sinn macht, seine eigenen Memoiren zu schreiben. Live Interview von Minute 44:30 – 51:38

Ich habe schon zwei Mal über dieses Thema geschrieben (Warum Memoiren schreiben gut tut und Memoiren – mehr als nur Erinnerung ) und möchte euch mit diesem Interview einfach noch einmal daran erinnern, dass diese Selbstreflexion des eigenen Lebens - oder auch nur besonderer Lebensabschnitte - eine wichtige Entwicklungsaufgabe im Alter ist. Es geht nicht darum sich zu beweihräuchern, auch nicht um sentimentales Schwelgen oder vielleicht auch nur an Altem festzuhalten. Es geht um Reflexion, sich darüber klar zu werden was wichtig und schön war und was nicht (!) und darum, mit sich und dem eigenen Weg im Reinen zu sein.

Memoirenschreiben ist inzwischen in der Altersforschung als identitätsstiftende und besonders sinnvolle Tätigkeit anerkannt [i]. Studien zeigen, dass Menschen, die sich mit ihren autobiografischen Erinnerungen beschäftigen, weniger depressiv und geistig beweglicher sind. Das trifft allerdings nicht zu, wenn in der Biographiearbeit nur die Vergangenheit glorifiziert oder primär anderen Menschen oder der Zeitgeschichte oder den Umständen Schuld zugewiesen wird.

 

Foto Helga Prazak: Im Helikopter unterwegs zu einer Produktionsanlage

 

Hier meine TAKEAWAYS, die euch vielleicht INSPIRIERen, diesen Schritt zu machen.

  • Wir kennen Memoiren meist nur von Celebrities und die schreiben mit einem bestimmten Fokus für ein Publikum. Aber ehrlich: Am interessantesten ist doch mein eigenes Leben! Auch, wenn es nach außen nicht so spektakulär war, wie das der Celebrities. Jedes Leben ist reich an Erfahrungen!

  • Natürlich kennen wir uns, aber durch die bewusste Auswahl der Erinnerungen triffst du eine bewusste Entscheidung, was dir wichtig ist.

  • Die Form (schriftlich oder als Tonaufnahme), der Umfang, die Zielsetzung oder der Lebensabschnitt sind völlig frei wählbar, es muss einfach nur zu dir passen und dir etwas bedeuten.

  • Entscheidend ist, WIE man zurückschaut, also die Einstellung dazu. Schaut man voll Wehmut zurück und führt sich permanent vor Augen, was man alles jetzt nicht mehr hat, oder hält voll Ärger und Groll nur solche Situationen fest, so führt das zur Verbitterung und die tut niemandem gut, schon gar nicht unserer Gesundheit!
    Man kann aber auch neugierig zurückschauen, was man Neues im eigenen Leben entdeckt, jetzt, wo man Abstand hat und um viele Erlebnisse reicher ist. So kann man sich die “eingebrachte Ernte” anschauen: Gutes und Schlechtes, und möglichst ohne Wertung. Und dann kommt der entscheidende Schritt: an dieser Stelle hast du die große Freiheit der persönlichen Einstellung dazu.

Es geht darum, wie du heute dazu Stellung nimmst,
nicht, wie du es damals erlebt hast!

Es ist deine freie Entscheidung
heute daraus ein Drama zu machen
oder einen Entwicklungsroman
oder vielleicht sogar in Teilen eine Komödie.

Hier geht es allein um deine eigenen Einstellungswerte. Gut zurückzu-schauen ist entscheidend für ein glückliches Leben. Und JA zum eigenen Leben zu sagen ohnedies!

  • Für mich war entscheidend, schwarz auf weiß zu sehen, dass es auch nach Tiefs, Krisen und dramatischen Wendepunkten gut, oft sogar besser, weitergegangen ist. Und ich habe erkannt, welche meiner Qualitäten und Strategien mir dabei geholfen haben. Auf diese kann ich auch heute zählen, wenn unvorhergesehene Situationen auftauchen.

  • Wann ist der richtige Zeitpunkt? Da gibt es nur eine einzige Antwort: wenn es dir ein Bedürfnis ist und du Zeit dafür hast oder sie dir nimmst. Du musst nicht warten, bis du 70Plus bist, um deine Memoiren zu schreiben. In meinem Kopf war lange Zeit die Idee, das macht man nur wenn man wirklich alt ist. 😉  
    Reflexion tut bereits sehr viel früher gut. z.B. die Abenteuer der Jugend festhalten, die Berufsjahre reflektieren, mit etwas abschließen (z.B. Beziehungen) etc.
    Ich habe vor kurzem für die Erstellung meiner Seelenmatrix (Seele – eine führende Kraft in unserem Leben) einige Seiten einer Selbstbeschreibung – das bin ich! - gemacht. Sie enthält meine Eigenschaften, die für mich wichtigen Stationen und Ereignisse in meinem Leben, sowohl schöne und angenehme als auch damals schmerzvolle Muster, die sich immer wiederholen und auch, wie mich zwei andere Menschen, die mich gut kennen, sehen.

  • Solch ein Rückblick gibt viel Kraft und Zufriedenheit. Alle, mit denen ich gesprochen habe und die ihre Memoiren geschrieben haben, meinten unisono, dass es sich viel leichter lebt, wenn man einerseits mit problematischen Situationen und Personen aufgeräumt hat und andererseits die Reichhaltigkeit des eigenen Lebens sieht.

  • Vielleicht wünschen sich auch eure Kinder, dass ihr euer Leben oder die Familiengeschichte festhaltet. Ich bin meiner Schwester sehr dankbar, dass sie unsere Familiengeschichte dokumentiert hat, und wir haben gemeinsam viel Erkenntnisse (auch über uns) gewonnen. Von meinem Vater hätte ich mir gewünscht, dass er seine Kindheitsgeschichten auf einem Gutshof in Niederösterreich aufgeschrieben hätte. Das waren die Gute-Nacht-Geschichten meiner Kindheit. So sind sie nur mehr bruchstückhaft in meinem Kopf – aber dennoch bedeuten sie mir viel.

Meine 4 wichtigsten Erkenntnisse

  1. Die Auswahl zeigt, was im Leben wirklich zählt!

  2. Auch schwierige Zeiten gehen vorüber und lösen sich positiv auf. Wenn man allerdings draufkommt, dass man unversöhnlich nach wie vor an Erinnerungen kaut, ist es Zeit Hilfe zu holen. Dieses Aufarbeiten ist eine der wesentlichen Grundlagen für Gesundheit im Alter.

  3. Man wird sich der eigenen Qualitäten und Lebensstrategien viel bewusster.

  4. Alleine durch das Niederschreiben der vielen schönen Erlebnisse ist bei mir so viel Dankbarkeit entstanden – Dankbarkeit für mein Leben und für all die wundervollen Menschen um mich herum.

Herzlichst
Helga

PS: Vielleicht ist ja gerade die “stillste Zeit” im Jahr (für mich ist das immer von Weihnachten bis zum 6.. Jänner) und der Jahreswechsel ein guter Anlass sich über die eigenen Memoiren Gedanken zu machen. Ich wünsche euch jedenfalls viel Freude dabei.

[i] [i] Geneviève Grimm-Montel: Funktionen des Erinnerns im erzählten Lebensrückblick älterer Menschen. Dissertation an der Universität Zürich (2012) https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/76278/1/Grimm-Dissertation.pdf

Warum Memoirenschreiben gut tut - ein Podcast

Judith Schneider von Zeitpolster hat mich im Rahmen ihrer Podcast-Serie „Cleveres Älterwerden“ eingeladen, über meine Erfahrungen des Memoirenschreibens zu sprechen.

Zu diesem Thema habe ich vor fast zwei Jahren bereits einen Artikel gepostet: Memoiren – mehr als nur Erinnerung, in dem ich insbesondere über die Erfahrungen meiner Schwester berichtet habe, die unsere Familiengeschichte und ihren Lebensweg in Japan festgehalten hat. Ich habe sie in diesem Prozess oft begleitet, dachte mir aber, dass ich noch viel zu jung für meine eigenen Memoiren sein. 

Aber manche Dinge ändern sich überraschend. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, die Erinnerungen an meine vielen Dienstreisen auch in sehr exotische und spannende Länder aufzuschreiben. Daraus ist dann sukzessive mehr geworden und wurde schließlich eine Reflexion des größten Teils meiner Berufszeit. Ich habe mir viele Fragen gestellt und beantwortet wie z.B.:

  • Was hat mich bewogen den damals völlig unbekannten Bereich  Umweltmanagement in einem der größten Unternehmen Österreichs aufzubauen? Was wollte ich erreichen und was ist daraus geworden?

  • Welche Projekte habe ich gemacht und welche davon waren erfolgreich, welche nicht und warum?

  • Wie ist es mir als Frau in der männerdominierten Energiewirtschaft ergangen?

  • Welche Menschen haben mich begleitet, wie haben sie mich unterstützt, aber auch, wie haben mich die Konflikte mit einigen von ihnen weiter gebracht?

  • Was sagen rückblickend mein Sohn und mein Mann zu meinen intensiven Berufsjahren?

  • Wie war mein Work-Life Balance wirklich?

Die (auch für mich manchmal überraschenden) Antworten auf einige dieser Fragen sowie Tipps, wie man es angeht und warum es gut tut, Memoiren zu schreiben besprechen Judith und ich in diesem Podcast.

 

Zeitpolster - Podcast: Warum Memoirenschreiben gut tut

 

Takeaway

  • Eine Biographie enthält die chronologischen Fakten deines Lebens, Memoiren hingegen die Erinnerungen und Reflexionen.

  • Du kannst entweder strukturiert vorgehen oder auch einfach bei irgendeinem Ereignis zu schreiben beginnen. Aber bevor du anfängst, überleg dir, warum du das machst: z.B. um etwas weiterzugeben, abzuschließen, dir klar zu werden, deine Schätze für dich selbst festzuhalten etc.

  • Memoiren dokumentieren den Schatz deines Lebens, deine Erlebnisse und Entscheidungen und du erkennst klar den roten Faden, das Herausfordernde und das Schöne.

  • Entscheidend ist allerdings die Einstellung, mit der du zurück schaust! Sie ist verantwortlich dafür, ob daraus ein Drama wird, ein Entwicklungsroman, in einzelnen Bereichen vielleicht sogar eine Komödie oder ein wesentlicher Teil deiner persönlichen Schatzkiste. Nur du entscheidest!

Herzlichst
Helga

 
 

Im Podcast über das „clevere Älterwerden“  findet ihr auch noch viele andere interessante Themen. Unter anderem zwei weitere Podcast von mir über strahlend alt werden und ausmisten für mehr Freiheit

 

Für alle, die Zeitpolster noch nicht kennen:
Zeitpolster ist ein Sozialunternehmen, das Betreuungsleistungen für ältere Menschen, Kranke oder auch für Familien mit Kindern vermittelt. Es geht um Gesellschaft leisten, Freizeitbegleitung, einkaufen gehen, Hilfe in Haus und Garten u.v.a. Das Besondere an dem Konzept ist aber, dass die Helfenden, die sich für andere Menschen einsetzen, ihre Stunden für später gutgeschrieben bekommen, wenn sie selber Hilfe brauchen. Ich finde diese Idee höchst spannend, denn Netzwerke sind so ein wichtiger Bestandteil, wenn wir älter werden.

Memoiren - mehr als nur Erinnerungen

Hast Du schon darüber  nachgedacht deine Autobiografie oder deine Memoiren zu schreiben? Nein? Ich auch nicht! Aber ich habe diesen Prozess bei meiner Schwester miterlebt, die vor 3 Jahren damit begonnen hat und nun fast fertig ist.  Warum sie das gemacht hat, was dabei so interessant war und wie sich die Motivation während des Schreibens geändert hat, möchte ich euch heute berichten. Denn ich glaube, dass es für jeden interessant ist, das eigene Leben zu reflektieren, um daraus Klarheit und Kraft zu erfahren und es zu würdigen.

Take away

  • Selbstreflexion als Entwicklungsaufgabe im Alter.

  • Herausfinden, was im eigenen Leben wirklich zählt.

  • Weil man sich das Positive vor Augen führt und weniger Positives nun mit Abstand neu bewerten kann.

 
 

LEBENSRÜCKBLICK GEHÖRT ZU DEN WICHTIGSTEN AUFGABEN IM ALTER

Es gibt die verschiedensten Motivationen dafür, den Lebensrückblick niederzuschreiben. Viele Menschen wollen Erinnerungen und besondere Erlebnisse für ihre Nachkommen festhalten. Aber noch viel häufiger liegt die Motivation darin, sich an die schönen und/oder auch an die weniger schönen Zeiten zu erinnern und so ein neues Verständnis dafür zu schaffen oder damit abzuschließen. Wenn man das ehrlich und ohne Werturteil über sich und andere zu Papier bringt, merkt man schnell, wie gut man so manches bewältig hat und wie wunderbar sich manche Wendungen im Leben ergeben haben.

Das Memoirenschreiben ist inzwischen in der Altersforschung als identitätsstiftende und besonders sinnvolle Tätigkeit anerkannt. Es geht nicht um sentimentales Schwelgen in der Vergangenheit, sondern um Selbstreflexion als Entwicklungsaufgabe im Alter. In einer Dissertation zu diesem Thema heißt es: „Dieses autobiografische Erinnern hat eine besondere Wirkung auf das Wohlbefinden und kann als wesentliche Ressource zur Gestaltung des eignen Alters beitragen und zählt zu den bedeutendsten, sinnstiftenden Tätigkeiten im Alter.“  [i]

MEMOIREN ODER AUTOBIOGRAPHIE – ZWEI VERSCHIEDENE DINGE

Es gibt zwei Arten diesen Lebensrückblick zu gestalten. Wenn man von Autobiographie spricht, dann meint man einen Bericht über das Leben, chronologisch, detailliert, in dem Daten und Fakten eine wichtige Rolle spielen. Bei Memoiren geht es um einen Bericht aus dem Leben, also Erinnerungen über bestimmte Ereignisse oder Epochen, in denen das persönliche Erleben im Vordergrund steht. Das kann das Berufsleben sein, das Familienleben, das können Reiseerinnerungen oder einfach besondere Ereignisse sein.

ERFAHRUNGEN MIT DEM MEMOIREN SCHREIBEN

Meine Schwester Daya ist vor 50 Jahren der Liebe wegen von Österreich nach Japan gezogen, also zu einer Zeit, in der das noch mehr als ungewöhnlich war. Dementsprechend ungewöhnlich war auch ihr Leben zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen. Telefonieren war kaum möglich, Videochats wie heute waren unbekannt, also blieben nur Briefe um zu kommunizieren. Unsere Mutter hat alle Briefe von Daya gesammelt und so existieren über 1.000 handgeschriebene Briefe über ihr Leben in Japan! Vor 3 Jahren hat sie begonnen anhand dieser Briefe ihre Lebensgeschichte und vor allem auch den europäischen Hintergrund für ihre Kinder und Enkelkinder zusammenzufassen. Dass daraus mehr geworden ist und sie viele persönliche Erkenntnisse gewonnen hat, hat sie selbst überrascht.

Ich habe viele, lange Gespräche mit meiner Schwester dazu geführt und möchte euch das Wichtigste berichten.

Daya, was waren für dich die interessantesten Erkenntnisse durch das Schreiben deiner Memoiren?

Natürlich hat man eine Vorstellung davon, wer man eigentlich ist und weiß, was im Leben bedeutsam war. Aber beim Memoirenschreiben muss man notgedrungen eine Auswahl treffen. Das Gewicht, das ich manchen Erinnerungen gab - wohingegen ich andere als unwichtig beiseite geschoben habe - zeigte mir deutlich, was mir ganz persönlich von größter Bedeutsamkeit erschien. Was in meinem Leben wirklich zählt!

Das waren in meinem Fall nicht unbedingt berufliche Erfolge oder die vielen Reisen, auch wenn sie mich mit Freude und Stolz erfüllen. Für mich war es geradezu lebenswichtig, dass meine japanisch-österreichische Familie beide Kulturen zu ihrem Recht kommen ließ. Von überragender Bedeutung waren deshalb familiäre Traditionen, die ich offensichtlich ganz gezielt als Gegengewicht zur japanischen Umgebung einsetzte und förderte, obwohl mir das damals gar nicht voll bewusst war. Ich hatte immer schon das Gefühl, dass unsere Familienfeste (Fasching, Weihnachten, Geburtstage,...) etwas Besonderes waren, aber wie besonders wurde mir erst klar, als ich Seite um Seite mit Beschreibungen und Fotos davon füllte. Die Kreativität, mit der wir sie gestaltet haben, hat auch meine Lehrtätigkeit enorm beeinflusst und zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Seit mir das in dieser Klarheit bewusst ist, kann ich auch viel besser damit umgehen, dass mit dem Alter viele Veränderungen kommen. Manche Sportarten gehen nicht mehr wie früher, weite Reisen derzeit auch nicht. Aber wenn ich sehe, wie meine Kinder diese Traditionen übernehmen und ihr eigenes daraus machen, ist mein Lebenstraum erfüllt.

Lernt man auch weniger positive Dinge und Lebensumstände besser einzuschätzen?

Oh ja, auch die konnte ich durch das Schreiben aufarbeiten, sie von mir ablösen und meinen Frieden damit schließen. Das vermutlich Wichtigste war, dass mir klar wurde, dass es selbst in einem Leben, das man im Rückblick als erfüllt und glücklich beurteilt, auch Schwierigkeiten und teilweise sehr große Herausforderungen gegeben hat. Aber alle Situationen haben sich in irgendeiner Form und durch mein Zutun positiv aufgelöst. Mir ist klar geworden, welche Methoden ich einsetze, um mit Problemen fertig zu werden und dass ich darauf vertrauen kann. Das hilft mir auch heute mit aktuellen Herausforderungen klar zu kommen. Zu wissen, dass es auf die eine oder andere Weise immer gut weiter geht, gibt ein unglaubliches Gefühl von Sicherheit.

Und schließlich ist durch das Niederschreiben der vielen schönen Erlebnisse meine Dankbarkeit enorm gestiegen. Ich trage so viele schöne Erinnerungen in mir.

Wie bist Du es praktisch angegangen?

Ich habe drei Bereiche gewählt. Der erste Abschnitt meiner Memoiren handelt von unserer Familie und geht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Es ging mir darum das Leben unserer Großeltern und Eltern wiederzugeben und in das soziale Umfeld von damals einzuordnen, damit dieser österreichische Teil der Familie für meine eigenen Kinder und Enkel in Japan zugänglich ist. Dabei habe ich selber erstaunlich viel über unsere Eltern erfahren und sie besser verstehen gelernt. Sie haben zwei Weltkriege und die Zeit der Depression in ihrer Jugend miterlebt und trotzdem danach so viel aufgebaut und uns mitgegeben. Es ist über ihre Vergangenheit selten gesprochen worden, und dennoch hat alles, was sie erlebt haben, uns mitgeprägt. Was mich an diesem Teil so fasziniert hat, ist, dass ich vieles von ihnen in mir erkenne und trotzdem meinen eigenen Weg gegangen bin.

Die Kapitel über meine Kindheit und Jugend waren mehr oder weniger von Nostalgie geprägt, wobei ich versucht habe, den Lebensstil der damaligen Zeit miteinzubeziehen. Ein Leben ohne Plastik, ohne Flugreisen, ohne Computer kann man sich ja heutzutage kaum mehr vorstellen.

Am Spannendsten war es mein Erwachsenenleben zu beschreiben, Die Briefe, in denen ich den Eltern mein Leben in Japan beschrieben habe, haben mich berührt, als wäre ich in eine Zeitmaschine geraten. Das war wirklich ich selber; so habe ich damals gedacht; das war mir damals wichtig genug, es schriftlich festzuhalten. Erstaunlicherweise habe ich bemerkt, dass ich mich problemlos mit meinem jüngeren Selbst identifizieren konnte. Meine Einstellung gegenüber vielen Dingen hatte sich nicht grundlegend verändert, ich habe nur dazugelernt. Diese Texte haben längst vergessen geglaubte Einzelheiten wieder wachgerufen. Sofort war alles wieder da, Bilder, Gefühle, selbst Töne oder Gerüche, so unmittelbar als hätte ich es erst gestern erlebt. Viele Male hatte ich beim Lesen den Eindruck, einen Film vor meinem inneren Auge ablaufen zu sehen.

Durch das Auswählen und Niederschreiben hat sich meine Motivation nach und nach weg von der einfachen Nacherzählung der Vergangenheit zu einer Art Selbstfindung verschoben. Es ging mir immer mehr um den Stellenwert, den gewisse Erlebnisse in meinem Leben hatten. Wo habe ich bewusst oder unbewusst Weichen gestellt? Warum bedeutete das Eine so viel und das Andere so wenig? Welche Mechanismen nützten mir in welchen Situationen?

Was würdest Du jemandem raten, der jetzt Lust bekommen hat, seine Memoiren zu schreiben? Wo soll man beginnen? Wohin führt es?

Memoiren zu schreiben ist ein Prozess, auf den man sich einlassen muss. Es fließt viel Zeit hinein, aber Zeit, die einem selber voll und ganz zugutekommt. Wichtig ist auch der Austausch mit anderen – so wie wir beide das gemacht haben - das schärft nochmal den Blick. Damit der Umfang nicht so überwältigend groß erscheint, kann man natürlich auch bei einzelnen Abschnitten anfangen, die einem, aus welchem Grund auch immer, leichtfallen oder wichtig sind. Und sollte man wirklich auf Themen stoßen, die einem schwerfallen, etwa jemandem zu vergeben, dann ist das ein guter Anlass sich Hilfe zu suchen und es wirkt befreiend.

Die Arbeit an meinen Memoiren ist noch nicht abgeschlossen, aber schon jetzt weiß ich, dass sie mir einen Weg in meine tiefste Seele geöffnet hat, den ich sonst nicht gefunden hätte.

Liebe Daya, ich danke Dir für Deine Einblicke und auch dafür, dass Du den ersten Teil meiner Memoiren, nämlich jenen über unsere Familie, bereits geschrieben hast. Die beiden anderen Teile – Kindheit/Jugend und mein Erwachsenenalter – stehen nun durch Deine Anregungen fix auch auf meiner Job-im-Alter Liste.

JEDER LEBENSRÜCKBLICK IST SPANNEND UND WERTVOLL

Vielleicht ist es einfacher, wenn man auf schriftliche Dokumente wie Briefe und Tagebücher zurückgreifen kann, aber ich bin sicher, dass Fotos oder Filme, Erinnerungen, Gespräche oder einfach nur der Fokus auf bestimmte Ereignisse im Leben ebenfalls sehr gute Reflexionen ermöglichen, Und vielleicht war das Leben von Daya in Japan außergewöhnlich, aber ist nicht jedes Leben außergewöhnlich und einzigartig? Und damit wert betrachtet zu werden?

Herzlichst
Helga

[i] Geneviève Grimm-Montel: Funktionen des Erinnerns im erzählten Lebensrückblick älterer Menschen. Narrative Selbstdarstellung und Integration autobiografischer Erfahrungen. Dissertation an der Universität Zürich (2012) https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/76278/1/Grimm-Dissertation.pdf