Warum geht denn das jetzt schon wieder nicht? Ich sitze vor meinem Computer, will eine wichtige Bestellung aufgeben und im letzten Schritt bricht der Vorgang ab. Und das nicht zum ersten Mal! Am liebsten würde ich alles hinschmeißen. Mein Sohn, zufällig zu Hause, schaut mir über die Schulter und meint lapidar: „Ja, das passiert – schreib halt an den Chat Assistant!“ Nein, mach ich nicht, ich will mich damit überhaupt nicht mehr befassen! So ein ...!!!
Bin ich wirklich ungeduldiger geworden?
Wir wollen in einer fremden Stadt in ein bestimmtes Restaurant gehen. Es regnet. Hektisch suche ich auf Google Maps – habe natürlich auch kaum Internet – und ich finde es nicht. Ungeduldig sagt mein Mann: „Aber du hast doch gesagt, du weißt, wo es ist!“ Dieser simple Satz ärgert mich bereits, wir argumentieren, hören einander nicht mehr zu, jeder ist schließlich beleidigt. Eine völlig harmlose Situation bringt „unsere Fässer zum Überlaufen“ Woher kommt das?
Ist unsere „Haut wirklich dünner“ geworden?
Ich beobachte daraufhin meinen Mann und mich und auch alle Bekannten und Freunde in unserem Alter und stelle ein verblüffendes Phänomen fest: obwohl objektiv gesehen unser Alltag stressfreier ist als früher, wir mehr Zeit haben uns einer Sache zu widmen und wir bei vielen wirklich wichtigen Themen deutlich gelassener sind als je zuvor (!!), scheinen Kleinigkeiten uns schneller aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es ist der Kleinkram, der so sehr nervt!
Warum das so ist und wie wir das lösen, will ich euch in diesem Post erzählen.
Takeaway
Es ist unser Nervensystem, das mit fortschreitendem Alter den Sympathikus (YANG) noch mehr in den Vordergrund bringt, während sein Gegenspieler, der Parasympathikus (YIN) schwächer wird.
Mit bewusster Aufmerksamkeit und ein paar einfachen Tricks können wir den Ruhenerv des Parasympathikus aktivieren bzw. stärken – das ist nicht nur für uns selbst gut, sondern werden auch alle in unserem Umfeld genießen.
WARUM REGEN WIR UNS ÜBER KLEINIGKEITEN IMMER MEHR AUF?
Lass z.B. einmal die letzte Woche Revue passieren. Sicherlich findest du Situationen oder Momente, in denen du gestresst oder ungeduldig warst. Was waren die Auslöser dafür und vor allem, wie lange hast du gebraucht, bis du wieder ganz im Lot warst?
Ich gebe „Ungeduld im Alter“ in eine Suchmaschine ein und bekomme seitenweise Artikel vorgeschlagen, die mit der Wesensveränderung im Alter zu tun haben: Altersstarrsinn, zunehmende Aggressivität und Ungeduld als erste Anzeichen von Demenz. Dass dies ein Erkennungsmerkmal sein kann, mag schon sein, aber ich bin fast schockiert mit welcher Vehemenz wir sozial und medial gedanklich in diese Schiene gedrängt werden, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Demenz die einzige Erklärung für Ungeduld im Alter ist.
Ich gebe nicht auf, suche weiter und finde Gründe, die für mich viel naheliegender sind:
Vergleiche mit früher, die uns verärgern oder deprimieren (z.B. langsameres Reagieren)
Bisher nicht geklärte Konflikte kommen jetzt mehr und mehr an die Oberfläche
Latente oder diffuse Schmerzen, die man oft gar nicht wahrnimmt, können einen ungeduldig werden lassen
Schlechteres Hören, bewusst oder unbewusst
Mangel an Neuem oder geistigen Herausforderungen - man wird nicht mehr so gefordert, daher thematisiert man Kleinigkeiten
Nach umfangreichem Recherchieren finde ich schließlich jene Erklärung, die für mich besonderen Sinn macht!
Wenn wir älter werden, verändert sich nicht nur unser Körper, auch die Balance in unserem vegetativen Nervensystem verändert sich. [1]
Verantwortlich für die Funktion des vegetativen Nervensystems, unseres „Innenministeriums“, ist das Duo des Sympathikus (sympathisches Nervensystem), und des Parasympathikus (parasympathisches Nervensystem). Sie verhalten sich wie YIN und YANG. Während der Sympathikus (YANG), das “Gaspedal”, Energie mobilisiert und in Stress-Situationen aktiviert (fight or flight response), sorgt sein Gegenspieler, der Parasympathikus (YIN), dafür, dass der Körper während Ruhephasen regeneriert und genährt wird (rest & digest response). Sie arbeiten autonom, stehen selbständig nebeneinander, agieren aber symbiotisch, wobei immer einer „den Hut aufhat“ und sorgen so für eine ausreichende Balance.
Während wir uns in jungen Jahren schneller an Situationen anpassen, bei Stress den Sympathikus hochfahren und uns dann mit Hilfe des Parasympathikus wieder richtig entspannen, wird auch unser Nervensystem – ähnlich unseren Muskeln - mit dem Alter langsamer und schwächer in seiner Reaktion. Zusätzlich ist das sympathische Erregungsniveau mit dem Alter permanent etwas höher, weil der für Ruhe & Regeneration wichtige Parasympathikus ungleich schwächer wird. Diese Dysbalance lässt uns nicht nur unruhiger werden, sie macht uns im Alter unter anderem auch anfälliger für Bluthochdruck, Stressfolgen und andere körperlichen Probleme.
Und schließlich bietet unser Leben heute reichlich stressige Situationen und Momente, die mit Leichtigkeit eine erhöhte Sympathikus-Aktivierung auslösen können (Probleme mit Online-Portalen, Hektik an der Supermarktkasse, in der Warteschlange, beim Autofahren, schlechte Nachrichten,...). Manchmal wollen wir es selbst nicht glauben (Warum rege ich mich denn überhaupt auf?) aber auch jungen Menschen fällt es an uns Senioren auf (Warum regst du dich / ihr euch so auf?).
IM ALTER AKTIVE FREUNDSCHAFT MIT DEM VAGUS-NERV SCHLIESSEN
Der Hauptnerv des Parasympathikus ist der Vagus-Nerv (Regulator & Selbstheilungsnerv). Ihm kommt eine Schlüsselrolle zu, denn er verbindet das Gehirn mit fast allen unseren Organen, sorgt für Informationsaustausch vom Körper zum Gehirn und umgekehrt, reguliert viele Körperfunktionen und hat einen gewaltigen Einfluss auf unsere Gesundheit und Psyche.
Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehören Entspannung und Unterstützung der Selbstheilung. Ist er stark und aktiv, kann sich der Körper nach Stress gut erholen, man fühlt sich wohler und hat positive Emotionen, Ein schwacher Vagus-Nerv erhöht die Anfälligkeit für Entzündungen, Erkrankungen, negative Emotionen bis hin zu Depression und vor allem auch Ungeduld!
Der Vagus-Nerv führt seine Tätigkeit zwar autonom durch, braucht aber im Alter vermehrt unsere Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und die können wir ihm geben.
SO KANNST DU DEINEN VAGUS-NERV UNTERSTÜTZEN UND DEINE GELASSENHEIT STÄRKEN
Ich habe schon an vielen anderen Stellen in meinem Blog über die Wichtigkeit der Entspannung gesprochen (Entspannung³ gehört zum Repertoire!) und dir etliche Übungen gezeigt wie Meditation (Anleitung … ), herzfokussierte Atmung oder Tapping (Stress release mit Tapping). All diese kleinen Übungen eignen sich auch zur Aktivierung des Vagus-Nervs.
Hier möchte ich dir noch ein paar weitere Tipps geben. Aus all dem kannst du das heraussuchen, was leicht anzuwenden ist, dir guttut und du nicht nur zu Hause machen kannst, sondern auch in der Öffentlichkeit. Denn wichtig ist es, auf zwei Ebenen anzusetzen, der langfristigen, kontinuierlichen Aktivierung und der akuten – also, dass du dich schnell aus einer stressigen Situation herausnehmen kannst und zu deiner inneren Gelassenheit findest.
Längerfristige Aktivierung des Vagus Nervs – Tipps für eine entspannte Grundkondition
Regelmäßige Meditation, Qigong, Thai Chi, Autogenes Training
Entspannungsmassage, Fußmassage oder sanfte Berührungen
Guter Schlaf – Wenn wir über Schlafen sprechen, sprechen wir vom Vagus-Nerv, denn durch ihn kommen wir zur Ruhe. In meinem Post Wenn der Schlaf graue Haare bekommt findet ihr schon viele Anregungen zum guten Schlaf. Ich habe auch noch zusätzlich die Information gefunden[2], dass Alkohol vor dem Schlafengehen zwar das Einschlafen erleichtern kann, aber die zweiten Schlafhälfte unruhig wird, da die Parasympathikus-Aktivität reduziert wird.
Singen oder Summen – Der Vagus-Nerv läuft am Kehlkopf und an der Luftröhre entlang. Wenn also der Kehlkopf durch Summen oder Singen vibriert, dann wird der Vagus-Nerv stimuliert.
Kälteduschen/-bäder – Kalt duschen erhöht die parasympatische Aktivität, insbesondere wenn man es über einen längeren Zeitraum macht (bitte unbedingt beachten, ob gesundheitlich etwas dagegenspricht!). Ich mache das seit einigen Jahren täglich kurz nach dem morgendlichen Duschen und ja, es kostet mich fast immer Überwindung, aber danach fühle ich mich super!
Entspannung „auf Knopfdruck“
Tiefes Atmen! Die wirkungsvollste Methode, um deine Ungeduld aufzulösen ist tiefes, bewusstes Atmen Damit signalisieren wir unserem Körper, dass es Zeit ist, in einen Zustand der Entspannung überzugehen. Das kannst du überall und jederzeit einsetzen – nur, wir müssen es halt im richtigen Augenblick dann auch wirklich machen!
👉 Atmen mit verbundenem Atem (Bauchatmung): Atme durch die Nase tief in den Bauch, so dass sich dein Zwerchfell beim Einatmen ausdehnt und durch den Mund wieder aus. Mach das langsam und fließend wie eine Wellenbewegung und in kürzester Zeit wirst du Entspannung spüren.
👉 BOX-Breathing nennt man die Technik, bei der man gleich lange durch die Nase einatmet, dann hält man den Atem an, atmet bewusst und langsam durch den Mund aus und wartet ebenso lange bei leerer Lunge, bis man wieder einatmet. Du kannst dabei in jeder der vier Phasen bis 4, 5 oder 6 zählen, solange, wie es für dich angenehm ist.Sanfte Ohrmassage! Rund um das Ohr befinden sich wichtige Akupunkturpunkte und auch der Vagus-Nerv verläuft hier. Du kannst entweder die Ohren außen von oben nach unten leicht massieren (insbesondere die Ohrläppchen) oder du streichst mit deinem Zeigefinger hinter dem Ohr leicht auf und ab. Beides bewirkt über ein Signal an das Gehirn eine schnelle und beruhigende Wirkung auf den ganzen Körper.
Leichtes Dehnen! Wenn wir gestresst sind, spannen wir uns auch körperlich an, verkrampfen die Schultern und andere Muskeln. Da hilft es dann, sich in so einem Moment bewusst zu dehnen oder strecken und dem Körper ein entspannendes Signal zu geben.
Lachen! Lachen entspannt jede Situation! Durch Lachen atmest du intensiver und veränderst deine Gesichtsmuskeln, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Vagus-Nerv stehen. Wenn es dir gelingt, im Stress bewusst selber und ohne irgendeine Abwertung zu lachen, tust du viel Gutes für dich und dein Wohlbefinden. (Humor im Alter)
Die Tatsache, dass wir bei Ungeduld im Alter besonders auf unseren Parasympathikus achten müssen, war für mich und meinen Mann eine wertvolle Erkenntnis. Dieses Bewusstsein allein hat uns seither geholfen, mit Ungeduld in stressigen Situationen anders umzugehen. Z.B. erinnern wir einander ins solchen Momenten humorvoll daran, dass es „da ja auch noch den Parasympathikus gibt, den man einladen könnte” 🙂”. Alleine, dass wir es ansprechen verändert etwas und zaubert oft zumindest ein Lächeln auf´s Gesicht. Den einen oder anderen „Ausraster“ gibt es zwar noch, aber jetzt lässt er sich viel leichter bewältigen.
Herzlichst
Helga
[1] M. Pflughaupt, T. Koch, M. Hübler: Veränderungen des vegetativen Nervensystems im Laufe des Lebens; Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden (2006)
[2] Esanum: Dr. Sophie Christoph: Wie Alkohol die Architektur des Schlafes fragmentiert (10.06.2021)